Die an eine alte Fabrikhalle erinnernde Location scheint wie geschaffen für die mitunter ebenso von stampfenden Industrial-Parts durchzogenen Stücke sowie das apokalyptische Konzept, in dem es unter anderem auch um den Gegensatz zwischen Mensch und Maschine geht. Doch dazu später mehr: Die Veranstaltung beginnt mit leichter Verspätung, mehr und mehr füllt sich der Platz vor der Halle. Das Publikum so mannigfaltig und bunt gemischt wie die Musik selbst: So findet sich der junge, lederjackentragende Metalhead mit Mayhem-Shirt gleich neben Kunstliebhabern älteren Jahrganges im feinen Zwirn. Die Zuschauerschar repräsentiert genau das was „Oozing Earth“ in sich vereint: Zeitgenössische klassische (Kunst-)Musik trifft auf extremen Metal.
Für erstere Komponente steht das in Frankfurt am Main beheimatete Ensemble Modern, das auf eine lange Historie zurückzublicken vermag und in der Vergangenheit bereits mit unsterblichen Größen wie György Ligeti, Karlheinz Stockhausen oder Frank Zappa zusammenarbeitete. Im „Oozing Earth“-Kontext wagt die international besetzte Truppe den Brückenschlag zum extremen Metal. Mit Attila Csihar (u.a. Mayhem, Sunn O))), Tormentor) und Flo Mounier (Cryptopsy) konnten zwei außergewöhnliche, charismatische Musiker zu einer Kooperation bewegt werden, die zu dem ureigenen Charakter des Ganzen entscheidend beitragen. Nach einführenden Worten zweier führender Köpfe der Bozener Kunstszene legt der letztgenannte Kanadier mit einem eindrucksvollen Drum-Solo los. Attila betritt daraufhin zusammen mit den Ensemble-Musikern die Bühne und das Stück beginnt: Wuchtige, verzerrte Streicherklänge treffen auf durch den Raum flirrende Bläser, während Attila in seiner unnachahmlichen Art Beschwörungen ins Mikro schreit. Die E-Instrumente haben sich die Musiker eigens für „Oozing Earth“ angeschafft und wenn man die Augen schließt, möchte man fast meinen, einer „richtigen“ Metalband zu lauschen.
Das Projekt lotet indes Grenzen aus, bewegt sich selbstsicher auf den unterschiedlichsten Ebenen und führt zwei Welten zusammen, von denen man eigentlich dachte, sie seien unvereinbar. Im Nachgang, wenn man sich wieder „herkömmlicher“ Musik zuwendet, merkt man, wie konservativ und vorhersehbar alles Vorangegangene eigentlich klingt. Die Prämisse des Komponisten Bernhard Gander, auf kompromisslose Art und Weise zeitgenössische Kunstmusik mit Black- und Death Metal zu verschmelzen, wurde so enorm eindrucksvoll realisiert. Auch der Sound in der Bahnhofsremise wirkt ungemein homogen. Zum ersten Mal überhaupt wird „Oozing Earth“ an dem Abend zudem ohne Dirigenten aufgeführt.
Die Musiker orientieren sich ausschließlich am Click-Track und das klappt beängstigend gut: Die Einsätze innerhalb dieses Sammelbeckens komplexer, manchmal auch regelrecht archaisch wirkender Sounds kommen alle auf den Punkt. Flo Mouniers anspruchsvolles Drumming nebst Blastbeats wirkt keineswegs wie ein Fremdkörper, sondern fügt sich auf natürliche Weise ins Ensemble ein. Das Zusammenspiel insbesondere mit den Perkussionisten zu seinen beiden Seiten ist bis zur Perfektion aufeinander abgestimmt. Am linken Bühnenrand zelebriert Attila Csihar seine Messe, beschwört gestenreich und stimmgewaltig eine unheilvolle Aura der Düsternis, der Verzweiflung. Das, was an diesem Abend zu hören und zu sehen ist, hat es bis dato noch nie gegeben: Manch einem mag dies zu avantgardistisch, zu experimentell sein. Aufgeschlossene Hörerkreise dürfen jedoch etwa anderthalb Stunden hingebungsvoller Ekstase verfallen. Danach ist nichts mehr so wie es vorher war: Man fragt sich, was das denn eigentlich gewesen sei, dem man da gerade beigewohnt hatte? Worte, nicht zuletzt auch die in vorliegender Rezension, vermögen dies nicht beziehungsweise nur eine unzulängliche Beschreibung abzugeben.
Um in diese akribisch inszenierte, trotzdem abstruse wie ungemütliche Welt einzutauchen, muss man all dieses Fremdartige, Morbide, an sich heranlassen, es am eigenen Leib und in der Seele spüren. Zu frisch die Eindrücke nach dem Auftritt, um bei einem Glas Lagrein die passenden Worte zu finden. Und auch jetzt, nach ein paar Tagen Abstand, vermag man den Abend kaum einzuordnen. Nur dessen ist man sich gewiss, nämlich, dass man etwas Außerordentlichem, ja, Revolutionärem beiwohnen durfte. Eine unterschiedliche Welten vereinigende, verstörende Feier der Apokalypse, dargeboten von wahren Meistern ihres Faches!
Text von Christian Wachter
Fotos & Video von Festival Transart, Tiberio Sorvillo 2022
07.09.22 - Oozing Earth from Transart Festival on Vimeo.