Nachfolgend einige Eckdaten, die den Status dieser Formation in etwa verständlich machen dürften: Anfang der 60er Jahre rief Gitarrist Dick Taylor zusammen mit seinen Gefährten Mick Jagger und Keith Richards eine Formation namens Little Boy Blue And The Blue Boys ins Leben, die sich wenig später in The Rolling Stones umbenannte. Dick wechselte an den Bass und absolvierte mit der Band den allerersten Auftritt im legendären Marquee-Club in London. Im August 1962 verließ Taylor die Stones, um sich weiterhin seinem Studium widmen zu können und um eine eigene Gruppe ins Leben zu rufen, in der er sich wieder seiner eigentlichen Passion, der Gitarre, widmen konnte: THE PRETTY THINGS waren geboren. Besonders in den frühen Jahren galt die Gruppe als eine der wildesten Bands überhaupt, so dass Medienvertreter die Stones im direkten Vergleich mitunter gar als „Teegesellschaft im Pfarrhaus“ bezeichneten. Sänger Phil May trug in den frühen 60ern den inoffiziellen Titel „Mann mit den längsten Haaren in Europa“.
1967 fingen die PRETTY THINGS damit an, mit ausladend-hypnotischen Rhythmusmustern, diversen Soundeffekten oder für Rockmusik eher untypischen Instrumenten wie beispielsweise einer Sitar gekonnt zu experimentieren, was dazu führte, dass Veröffentlichungen der Formation heutzutage in einem Atemzug mit Psychedelic-Meisterwerken vom Schlage „The Piper At The Gates Of Dawn“ von Pink Floyd oder „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles genannt wird. Insbesondere zwei Alben stechen aus der Diskografie heraus: „S.F. Sorrow“ von 1968 gilt sogar noch vor „Tommy“ von The Who als wohl allererste Rockoper überhaupt und als Meilenstein der „Flower-Power-Ära“. Erst 1998 wurde dieses Werk in den Londoner Abbey Road Studios zum ersten Mal in voller Länge live aufgeführt, und zwar mit solch illustren Gästen wie David Gilmour von Pink Floyd an der Gitarre und Arthur Brown als Erzähler. Das 1970er Nachfolgewerk „Parachute“ wurde vom „Rolling Stone“ gar zur „LP des Jahres“ gewählt, leider blieb der durchschlagende kommerzielle Erfolg trotzdem aus. Dieser leidige Umstand zog sich allerdings irgendwie durch die gesamte Karriere der PRETTY THINGS. Trotz der Tatsache, dass Rock-Größen wie Robert Plant oder David Bowie die Gruppe immer wieder als prägenden Einfluss zitierten, standen Taylor, May & Co. immer im Schatten der ganz Großen des Rock-Genres. Ein Stück weit Genugtuung für die in Würde gealterten Herren ist es dann, wenn wie am besagten Dienstagabend der kleine Ampere-Club in München besuchertechnisch aus allen Nähten platzt.
Zunächst entern jedoch die Nürnberger RAMRODS die Bühne und liefern eine gelungene Mischung aus eigenen Stücken und Coverversionen ab. Sänger/Gitarrist Peter Harasim steht dabei im Zentrum des Interesses. Bei einem Kniefall vor dem kürzlich verstorbenen Chuck Berry überlässt der hauptberufliche Konzertveranstalter und Mitbetreiber des Nürnberger Hirsch-Clubs jedoch Keyboarder Trevor Sydney das Mikro, weil ihm in dem Song „zu viele Silben“ vorkommen. Die RAMRODS schlagen sich achtbar und heizen dem bereits zahlreich anwesenden Publikum für das was an dem Abend noch folgen mag gut ein. Und das ist dann einfach nicht von dieser Welt: Die beiden Urmitglieder der PRETTY THINGS, Sänger Phil May und Gitarrist Dick Taylor, erweisen sich als Dreh- und Angelpunkte der Show. Wie die restlichen Musiker sind auch sie in feinem Zwirn gewandet und liefern eine nahezu beängstigend perfekt aufeinander abgestimmte Show ab, die beweist, dass man auch in gehobenem Alter noch erstklassige Auftritte abliefern kann. Die beiden jüngeren Mitmusiker, Bassist Jack Woosey und Schlagzeuger Jack Greenwood, agieren dabei als aktivere Posten auf der Bühne, was dazu führt, dass auf der Stirn der Beiden sehr schnell Schweißperlen auftreten, während die „Grand Monsieurs“ locker-cool aufspielen und keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigen. Aktiver geht auch Rhythmusgitarrist Frank Holland zugange, der immer wieder mal die Mundharmonika auspackt, um vorwiegend bluesig angehauchte Stücke zu veredeln.
In der Mitte des Sets greift Dick Taylor für zwei Stücke dann zur akustischen Gitarre, wo er seine formidablen Bottleneck-Fähigkeiten eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die PRETTY THINGS nutzen diese Gunst der Stunde, um einen Kniefall vor dem „King Of Delta Blues“ Robert Johnson zu vollführen: Insbesondere während jener Momente jagt dem geneigten Fan ein Gänsehautschauer nach dem nächsten über den Rücken. Gleich danach wird wieder die Elektrische umgeschnallt und eine Hommage an Bo Diddley ('You Can't Judge A Book By The Cover') zum Besten gegeben. Dies macht insofern Sinn als dass dessen Song 'Pretty Thing' die Engländer einst 1963 hinsichtlich ihrer Namensgebung beeinflusste. Ansonsten bietet das Quintett eine ungemein kurzweilige Reise quer durch das bisherige musikalische Schaffen, mit einem starken Fokus natürlich auf die psychedelische Phase der 60er Jahre. Dabei gehen die PRETTY THINGS auch anno 2017 zuweilen noch ziemlich heavy zu Werke: Schwülstige Klischees sucht man hier vergeblich, denn schließlich haben diese Herren das erfunden, was auch heute noch so viele Newcomer verzweifelt versuchen wiederzubeleben. Dem Motto „das Original ist immer noch das Beste“ werden die Briten an diesem Abend auch mehr als gerecht: Die Herren spielen sich regelrecht in einen Rausch und gehen dabei aber immer akzentuiert wie konzentriert zu Werke. Schließt man die Augen kann man sich innerlich ins Jahr 1967 in einen kleinen, versifften Londoner Club zurückversetzen. Während die Studioaufnahmen mit allerlei Effekten beladen wurden, bieten die PRETTY THINGS dieser Tage auf der Bühne pure Rockmusik in der üblichen Instrumentierung an: Diese Facette entwickelt im Laufe der Zeit einen ureigenen Reiz, vor allen auch in Anbetracht der Tatsache, dass Phil May nach wie vor ein herausragender Sänger und Dick Taylor ein genialer Gitarrist ist.
Die Phase nach dem Ende der glorreichen Ära der PRETTY THINGS wird dabei eher außen vor gelassen, zu groß ist das Repertoire, aus dem man ohnehin schon schöpfen kann. Trotz der Tatsache, dass Dick sogar mal kurzzeitig als Mitglied von Hawkwind in Erscheinung trat und deren selbstbetiteltes Debüt produzierte, geben die Engländer an dem Abend keinen Song der Space Rock – Giganten zum Besten. Dafür wird sogar jene Phase berücksichtigt, als die PRETTY THINGS kurzzeitig unter dem Namen Electric Banana firmierten und Filmsoundtracks herausbrachten. Höhepunkte der Show sind allerdings die alten Klassiker wie 'S.F. Sorrow Is Born' von der oben erwähnten Konzeptscheibe oder das eingängige 'I See You'. Kultig auch das durchgeknallte 'Defecting Grey', das von seinen überraschenden Breaks lebt und einst bereits vorwegnahm, was viele Generationen später erst zur Prämisse erhoben. Ziemlich zum Schluss des Auftritts darf auch Schlagzeuger Jack Greenwood noch sein Können hinterm Schlagzeug während eines Solos unter Beweis stellen, während sich seine Bandkollegen eine kurze Auszeit gönnen. Standesgemäß beenden die PRETTY THINGS dann ihr reguläres Set mit der treffend bezeichneten Hymne 'L.S.D.', hier soliert Taylor auf wahrhaft brillante Art und Weise.
Nach frenetischen Forderungen nach mehr lassen sich die Briten nicht lumpen und zocken noch zwei Songs als Zugabe. Dem Aufruf Phil Mays, dass sich möglichst viele Leute nach der Show am Merchandise-Stand einfinden sollten, wo die Band definitiv ALLES signieren würde, folgten dann auch viele Fans. Ein regelrechtes Gedränge herrschte, wobei die Engländer die Ruhe selbst waren und sich Zeit für das eine oder andere kurze Pläuschchen nahmen. Fazit: Ein großer, denkwürdiger Abend, der wie eine Zeitreise durch ein wichtiges Stück Rockgeschichte wirkte! Während andere ehemalige Weggefährten der PRETTY THINGS heutzutage ganze Stadien wie große Hallen füllen, Tickets für über 100 Euro und mehr verkaufen, rein musikalisch gesehen jedoch nichts wirklich Besonderes mehr zu bieten haben, liefern die Engländer für läppische 28 Euro Eintritt an der Abendkasse eine spektakuläre, herrlich sympathische Show ab, von der sich das Gros der heutigen Musikszene nicht nur eine Scheibe abschneiden könnte! Als Wermutstropfen könnte einzig und allein der Umstand bezeichnet werden, dass der Kult-Hit 'Bracelets Of Finger' in der Setlist außen vor gelassen wurde: Manch ein Ulver-Fanatiker vergießt deswegen eine stille Träne. Aber angesichts der Dichte an relevantem Material, die sich im Laufe von über einem halben Jahrhundert Bandgeschichte angesammelt hat, ist das durchaus zu verschmerzen!
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