BONG-RA aus Rotterdam erweist sich als erste „Hürde“ des Abends. Jason Köhnen himself – auch Mitglied des interessanten The Kilimanjaro Darkjazz Ensembles – steckt seine Musik nicht in Schubladen und definiert sie somit als undefinierbar. Um dennoch einen Versuch zu unternehmen: Elektronischer Lärm, von extrem tiefen und fetten Bässen untermauert, vermengt mit Noise, Breakbeats, Drum 'n' Bass, Metal (der teilweise an Jesu erinnert) und allem, was man mit einem Chaos-Pad und Laptop plus diversen anderen, verkabelten Hilfsmitteln so anstellen kann. Fast eine Stunde dröhnt der freundliche Rastamann seine Beats in die bis dato zu einem Drittel gefüllte Markthalle; so laut und wummernd, dass es einer Gratis-PC-Muskel-Massage gleicht. Ein paar wenige wissen den Krach zu schätzen und lassen die steifen Beine zittern, andere starren hypnotisiert auf die kahle Bühne während der Rest draußen am Biertrinken und Plaudern ist. Bis auf den Lärm passiert nicht sonderlich viel, daher eher anstrengendes Material, welches im Vorprogramm der Hauptband niemanden überraschen sollte. Zusammengefasst: Beckenboden-Training in Bassform für Fortgeschrittene.
Wäre ein DILLINGER-Konzert an einem vorverlegten Sonntagabend nicht ohnehin schon viel verlangt, legt es die Band wieder drauf an und fordert die Fans heraus: Bevor es losgeht, ertönt über die Boxen das übliche Herzschlag-„Intro“ als klangliche Überbrückung, eine gefühlte Ewigkeit vergeht, die Erwartungshaltung steigt, die zahlreichen Fans rufen nach „DILL-EN-GER! DILL-EN-GER!“ und als das Licht endlich ausgeht, die Band die Bühne betritt und ihre Kampfstellung einnimmt, entlädt sich der Druck innerhalb einer Sekunde. ‚Prancer‘ vom Album „One Of Us Is The Killer“. Gellend weiße Flackerlichter, Bühnennebel und der sofortige Anstieg von Null auf 100 auf dem Chaos-Tachometer. Genau das ist der Effekt, den die Band haben will und der zur Musik von THE DILLINGER ESCAPE PLAN nur allzu gut passt. Was wäre ein Knallbonbon ohne Knall? Auf sowie vor der Bühne geht es wild und turbulent zu, als seien alle Beteiligten von mehreren Taranteln gleichzeitig gestochen. ‚Lamerent Death‘ und ‚Symptom Of Terminal Illness‘ vom aktuellen Album „Dissociation“ folgen. Für die Hamburger wird ein 18 Stücke umfassender Querschnitt aus 20 Jahren Bandgeschichte perfekt eingespielt und unglaublich heftig zelebriert. Kein Geheimnis, dass die Musik des Quintetts anstrengend, intensiv und hochemotional ist, teils sind die rasenden Ausbrüche und charakteristischen Taktwechsel derart cholerisch und überfordernd, dass viele der Zuschauer loslachen müssen, fast so, als würde man mit etwas umgehen müssen, dass vom Gehirn nicht verarbeitet werden kann. Auch wenn man die Band schon tollwütiger und weniger „aufgestellt“ gesehen hat, bleibt trotzdem genug Raum für Kletter- und Sprungarien von den Boxen, kurzen Ausrastern am Absperrgitter und Gründer und Kopf Ben Weinman lässt die Gitarre verrückt am Körper kreisen, um anschließend wie ein Besessener weiter zu spielen. Ab der Hälfte des Sets ist auch Sänger Greg Puciatos Stimme lauter abgemischt, sodass nun von Top-Sound geschrieben werden darf, in dem sogar die leisen und frickeligen Momente bestens herauszuhören sind – die Eingeweide sind Zeuge. Gregs Gekreisch überschreitet in einigen Lagen die Toleranzen des menschlichen Gehörs. Alles ist extrem und die Stimmung exzellent. Auf der Setlist stehen u. a. ‚Black Bubblegum‘, ‚Surrogate’, ‚Milk Lizzard‘, ‚Low Feels Blvd‘, ‚Panasonic Youth‘ und ‚Sunshine The Werewolf‘.
Nach knapper Stunde verlässt DILLINGER die Bühne, doch es bleibt weiter herausfordernd: Nach minutenlanger Pause und Epileptiker-Flackerlicht – geschulte Gamer denken jetzt an den vorab eingeblendeten Videospiel-Warnhinweis – stimmt Ben Weinman auf dem Keyboard ‚Purple Rain‘ von Prince an, für ca. 5 Sekunden bevor er nahtlos in das atmosphärische ‚Mouth Of Ghosts‘ vom 10 Jahre alten Album „Ire Works“ einsteigt. Nach den psychotischen Orgien ‚The Mullet Burden‘ und ‚43% Burnt‘ vom Debüt ist Ende im Gelände. Das Schlagzeug von Billy Rymer, welcher erneut ein taktvolles Schlagzeuger-Sternchen erhält, muss für einen kurzen Anflug von Zerstörungswut herhalten. Licht an, schweißbedeckte Leiber überall, ‚Whoomp There It Is‘ von Tag Team(!) wird als Rausschmeißer abgespielt. Ein Leben in Extremen.
Im Gegensatz zur durchgehend konfrontativen Musik wurde in den Ansagen und vom Habitus der Band bescheiden und zurückhaltend ‚Danke und Tschüss’ gesagt, ohne große Gefühlsduselei oder Bon-Jovi-mäßigen Umarmungen und Verbeugungen. Passt – kurz und schmerzvoll. Prinzipiell legen THE DILLINGER ESCAPE PLAN Wert auf Konzertnachhaltigkeit beim zufriedenen Kunden: Zeitlich begrenzter Gehörverlust, Sehstörungen, Augen- und Muskelzucken, Bewusstseinsstörungen, Orientierungsverlust, unfreiwillige Bewegungen und Krämpfe. Wir reden hier immer noch von Spaß.
Glücklicherweise bleiben dem Hörer die einzelnen Musiker in anderen Formen erhalten; sei es nun die „Supergroup“ Killer Be Killed um Greg Puciato plus Max Cavalera und Troy Sanders von Mastodon, das ebenso prominenz-gespickte Projekt von Ben Weinman Giraffe Tongue Orchestra (Alice in Chains, The Mars Volta, Mastodon, Dethklok) oder die musikalischen Weiterführungen von Gitarrist James Love.
So denn, lieber DILLINGER ESCAPE PLAN, danke für Musik ohne Grenzen, uneingeschränktes Chaos und vermutlich tausende gebrochene Rippen und Platzwunden. Als anschauliches Fazit wäre an dieser Stelle eine von Fans zusammengetragene Statistik von auf DILLINGER-Konzerten zugezogenen Verletzungen ziemlich interessant.
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P. Lugosi