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NACHTGESCHREI waren konstant fleißig und unermüdlich und realisierten ein Album nach dem anderen. Nur ein Jahr nach dem Debüt trat „Am Rande der Welt“ aus der Dunkelheit der Nacht ins Sonnenlicht. Im Folgejahr erschien „Ardeo“. 2011 arbeiteten NACHTGESCHREI die Festivalsaison ab, und im Herbst ging es auf große Konzertrundreise mit Subway To Sally. Dieses Leben on the road zehrte an den Kräften, und der damalige Sänger Hotti schmiss Anfang 2012 den Bettel hin. Das war ein brüsker Bremser für die stetig an Fan-Zulauf gewinnende Band. Ans Aufhören verschwendeten NACHTGESCHREI keinen Gedanken. Tilman: „Natürlich bedeutet ein Sängerwechsel im ersten Moment schwere Einschnitte und den Verlust von Fans. Trotzdem haben wir niemals daran gedacht, aufzuhören. Und wie es sich durch die positive Entwicklung gezeigt hat, war das genau die richtige Entscheidung.“

NACHTGESCHREI suchten und wurden fündig: Martin LeMar, Sänger von Tomorrow‘s Eve und Mekong Delta, zeigte sich als ideale Wahl für die vakante Stelle des Frontmanns. Mit neuem Elan ging die wiedergeborene Truppe an die Arbeit und präsentierte im 2013 ihr neues Werk mit dem vielsagenden Titel „Aus schwärzester Nacht“. Tilman dazu: „Die Entscheidung, Martin als Sänger in die Band zu holen, haben wir bis heute nicht bereut. Er ist ohne Zweifel ein Ausnahmekünstler, und ohne ihn wären wir nicht da, wo wir heute sind. Es ergaben sich extrem viele neue Möglichkeiten und Chancen. Sein kreativer Einfluss hat unsere letzten drei Alben sehr geprägt, also ist unser neuer Sänger schon eine ganze Weile kein neuer Sänger mehr, sondern fester Bestandteil der Band.“

Es ging Trommelschlag auf Trommelschlag weiter, und NACHTGESCHREI konzertierten das gesamte 2014, vom kleinen Folk-Festival bis zum Wacken Open Air. Doch die Band waren zu diesem Zeitpunkt wieder mit Personalproblemen konfrontiert. Gründungsmitglied Joe gab seinen Austritt bekannt. An seiner Stelle kam Folkmusikerin Laui ins Spiel, die sich mit Drehleier, Flöten und Gesang einbrachte. Das gemeinsame Album „Staub und Schatten“ erschien im 2015.

NACHTGESCHREI denken beim Songwriting nicht in Schubladen, wie Tilman weiter erzählt: „Ich kann da nur für mich sprechen, da es so was wie einen typischen Mittelalter-Rock- bzw. Metal-Song für mich nicht gibt. Songs schreiben wir nicht im Hinblick auf Genres. Im Folk Metal haben wir viele Möglichkeiten, mit Klangfarben zu arbeiten, denn die Melodien sind die gleichen, ob sie für Dudelsäcke oder Gitarren komponiert wurden.“

Obwohl sich NACHTGESCHREI ihrem eigenen Verständnis nach eher als Folk-Rocker sehen, ist die Grenze zum Mittelalter Rock diffus und die genaue Abgrenzungen schwierig. Das bedeutet nun auch, dass Musik und Auftreten von NACHTGESCHREI immer auch in einem mittelalterlichen Kontext gesehen werden. Tilman: „Wir sehen uns vor allen Dingen als Live-Band. Auf durchmischten Festivals - vor allem Metal-Festivals – zu spielen, ist für uns besonders reizvoll, was nicht heißen soll, dass wir uns in der Mittelalterszene nicht wohlfühlen. Wir freuen uns immer, die enthusiastischen Fans der Mittelalterszene vor der Bühne tanzen zu sehen. Unser roter Faden zieht sich dennoch eher durch den Metal-Bereich.“

Es sind immer wieder Menschen anzutreffen, die von sich sagen, sie hätten gerne im Mittelalter gelebt. Ausgeblendet werden hier existentielle Errungenschaften, ohne die ein Leben ungleich ungemütlicher ist. Dies trifft in besonderem Maße auf Hygiene und Gesundheit zu. Ohne Antibiotika und Schmerzmittel oder vernünftige Zahnmedizin und chirurgische Möglichkeiten ist die eigene Existenz entscheidend härter. NACHTGESCHREI schätzen die Errungenschaften der Zivilisation: „Ich kann da bedenkenlos für uns alle sprechen, wenn ich sage, dass wir nicht im Mittelalter leben möchten.“ Auch beim Lebensentwurf konnte man in vergangenen Zeiten nicht so frisch, fromm, fröhlich, frei agieren. Überall lauerte der Scheiterhaufen. Doch wegen welcher Todsünde würden NACHTGESCHREI auf den Scheiterhaufen kommen? Tilman meint augenzwinkernd: „Ich bin recht sicher, dass ich mehrere der klassischen Todsünden immer mal wieder praktiziere. Welche waren das noch mal genau?“

Rausch gehört zum Rock‘n‘Roll dazu, doch NACHTGESCHREI sind diesbezüglich eher brav. Tilman: „Wir sind eine drogenfreie Band (bis auf die Idioten, die noch rauchen – mich eingeschlossen). Den einen oder anderen Alkohol-Abusus gibt und gab es aber dennoch in der mehr als zehnjährigen Bandgeschichte.“ Auf den kathartischen Effekt des Rausches verzichtet Tilman: „Wir sind alle keine Esoteriker, eine spirituelle Reinigung spielt für uns mit Sicherheit keine Rolle, wenn es um die Band geht.“

Mit der Veröffentlichung von „Tiefenrausch“ sind natürlich wieder Konzerte und Touren angesagt. Für Tilman eine Herzensangelegenheit und großes Vergnügen: „Spaß ist da weit untertrieben. Auf Tour zu sein ist uns unglaublich wichtig und der Motor, der uns stets antreibt.“ Der Terminkalender ist entsprechend voll: „Als Tourauftakt starten wir bei den Wacken Winter Nights und einem großen Festival in Herford. Wenn dann Anfang März unsere Platte das Licht der Welt erblickt, gehen wir auf Clubtour, und dann beginnt auch schon die Festivalsaison.“ Die Vorbereitungen sind also in vollem Gange, die Bühnenklamotten gebügelt. Etwas, was in der Verantwortung jedes Einzelnen liegt: „Jeder ist im Bereich der schwarzen Klamotte frei in der geschmacklichen Entfaltung. Aber Sponsoren haben wir keine.“ Über die Erlebnisse und Exzesse auf Tour legt der Gitarrist das Mäntelchen des Schweigens: „Da gab es einiges, doch: What happens on tour, stays on tour!“

 

Text: Lukas Schärer

Foto: www.facebook.com/nachtgeschrei