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Anthrax

Den Auftakt dürfen die Youngster THE RAVEN AGE aus London absolvieren. Mit ihrem gesichtslosen melodischen Modern Metal kann sich das Quintett aber nur einen lauen Applaus erarbeiten. Zwar agieren die Jungs dynamisch, aber auf kraftlosen Gesang und Riffs, die man bei Nevermore schon wesentlich besser gehört hat, scheinen nur wenige Lust zu haben. Überall sind die Besucher am Quatschen, anstatt den Newcomern Aufmerksamkeit zu schenken. Das Docks ist nicht mal zur Hälfte gefüllt, als THE RAVEN AGE ihren Auftritt nach knapp 40 Minuten beenden. Kurz genickt und einen guten Platz gesucht, denn jetzt füllt sich der Club auf der Reeperbahn langsam, auch wenn sich die Milzbranderreger noch gut 20 Minuten bitten lassen.

Dann geht das Licht aus, und das Intro zum Titelsong ertönt, woraufhin ANTHRAX mit einem Knall in den Song einsteigen. Der Sound ist zwar noch eher als Gedröhn zu charakterisieren, aber die Stimmung im Docks steigt sofort ein paar Punkte auf der Skala zur Ekstase. Mit ,Caught In A Mosh‘ und ,One World‘ verwandeln Scott Ian, Frank Bello und Joey Belladonna die ersten Reihen in ein Tollhaus. Zu allen drei Songs ist das Metaller-Heer textsicher der Gegenpol zur Action auf der Bühne. Frank Bello ist kaum zu bremsen, Joey sing zwar nicht perfekt, ist aber mit großer Inbrunst und Ausstrahlung dabei, während Scott immer noch der Derwisch an den sechs Saiten ist. Der Motor an diesem Abend ist aber Jon Dette, der mit unglaublicher Kraft sein Instrument malträtiert. Der Mann ist eine Urgewalt an den Kesseln. So stört es auch keinen, dass der Frauenschläger zuhause bleiben musste. ,I Am The Law‘ und Scotts Lieblingssong ,A Skeleton In The Closet‘ – „Ich bin immer noch ein großer Fan von Stephen King.“ – heizen die Stimmung immer weiter an. Inzwischen ist der Sound annehmbar und schafft es, gegen die Fanschar vor der Bühne anzukommen. ,Efilnikufesin (N.F.L.)‘ bringt den Pit zum Überkochen. Es gibt kein Halten mehr.

Um ein wenig abzukühlen, leitet Jonathan Donais mit einem gekonnten Gitarrensolo in ,A.D.I./Horror If It All‘ über. Ansonsten wirkt der junge Mann fehl am Platz. Er steht meist am Rand, seine Posen wirken ungelenk und aufgesetzt. Auch wenn ihn die drei Ur-Mitglieder immer wieder versuchen, in die Show einzubinden, bleibt der zweite Jonathan ein Fremdkörper. Auch sein filigranes Spiel passt nicht zur unbändigen Power ANTHRAX. Die anderen Jungs haben weiterhin massig Hummeln im Arsch an diesem Abend. Die Aufforderung zum Kriegstanz lassen sich nur wenige entgehen, bevor die Stimmung mit ,Imitation Of Life‘ einen weiteren Höhepunkt erreicht. Scott leitet den Song mit einer Bemerkung ein, die treffender nicht sein kann, und zeigt, dass er immer noch der Schelm wie vor 30 Jahren ist: „Als wir 1986 die Songs zu „Among The Living” schrieben, haben wir uns gewundert, wie verrückt es ist, einen schlechten Schauspieler als Präsidenten zu haben. Wir waren naiv! Darum lasst euch nicht vorschreiben, wie ihr euer Leben leben möchtet!“

Für viele ist der Abend an dieser Stelle gelaufen, als der Thrash Metal-Klassiker in seiner Gesamtheit dargeboten war. Das Durcheinander bei der Reihenfolge erklärt Scott als Zufall, sie haben die Songs inzwischen drauf. Und lieben sie immer noch genauso wie das volle Docks. Auch wenn viele Anwesende bereits zu diesem Zeitpunkt vollauf zufrieden sind und ohne schlechtes Gewissen die Heimreise antreten könnten, hätten sie eine zweite Halbzeit verpasst, die es in sich hat. Mit dem mit Abstand besten Song in diesem Jahrtausend, nämlich ,Fight ’Em ’Til You Can’t‘ fegen die Milzbranderreger über das Parkett der Bühne, als wäre dies der erste Song am Abend. Absolut furios! ,Breathing Lightning‘ lässt einem hingegen Zeit, isotonische Durstlöscher zu ordern, denn es sollte ein Besuch in der Irrenanstalt folgen. Vollkommen aufgedreht geht das Dreigestirn ab. Der Pit steht dem Chaos auf der Bühne in nichts nach. Zur Abkühlung offerieren die New Yorker das ausdrucksstarke ,Blood Eagle Wings‘ in kaltem weiß-blauen Bühnenlicht, bevor mit dem Trust-Klassiker ,Antisocial‘ die letzte Runde eingeläutet wird, die sich als kompletter Knockout erweist. Was für ein glorreicher Abend, 30 Jahre nach der Original-Tour. Und was für ein Glück, dass ANTHRAX noch unter den Lebenden sind.

Fotos: Christian Zimmermann

Text: Kristian Habermann

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