Aber zuerst zum Titel: „Angel of Carnage“ – und andere, gleichbedeutende, Ausdrücke – diente im 18. Jh. als Begriff für die mannigfaltigen Leiden, die Gott dem Menschen auferlegte für seine Sünden – wie die Pest, Hunger, oder eben Krieg. Krieg war also eine Strafe, den Untertanen auferlegt von Ihm, dem Allmächtigen, indem er Könige auf Blutvergießen sinnen ließ.
Die Zeit des Großen Nordischen Krieges wurde hauptsächlich deswegen verwendet, weil er die wohl dunkelste Periode in der Finnischen Geschichte darstellt, und sich daher besonders gut als Kulisse für ein Black/Epic Metal Album eignet.
Für die Finnen war der Große Nordische Krieg so verheerend, dass er sogar die Ereignisse um den Zweiten Weltkrieg in den Schatten stellt. Es wird angenommen, dass von den 60‘000 Finnischen Soldaten (welche oft zwangsweise eingezogen wurden) 40‘000 umgekommen sind, und weitere 10‘000 Zivilpersonen an Ursachen starben, die in direktem Zusammenhang mit dem Konflikt standen. Sogar für die Soldaten waren die Todesursachen eher Hunger, Krankheit und Erschöpfung, als Kugeln oder Schwerter. Die Anzahl Todesopfer steht für erschreckende 10% der damaligen Bevölkerung, und weil die meisten der Toten Männer waren, löste der Krieg auch eine größere demographische Verschiebung in der Bevölkerung aus.
Wir fragten den Historiker Dr. Teemu Keskisarja – dessen Buch „Murhanenkeli“ („Mordengel“) die Hauptquelle für die Texte sind – um Erklärungen, wieso der Große Nordische Krieg ein derart düsteres Kapitel der Finnischen Geschichte ist:
„In der Sicherheit der heutigen Nordischen Länder scheint es schwierig zu verstehen, wie gnadenlos die Mordengel unsere Vorfahren vor zehn Generation nahezu ausgelöscht haben. Covid-19 ist im Vergleich zum Großen Nordischen Krieg ein Mückenstich.
Kriegführung war auch im 20. Jh. keine einfache Sache, aber meiner Meinung nach sind die Leiden des 18. Jh‘s beispiellos. Krieger sind in Schneestürmen zu Tode erfroren, haben sich bei Durchfall die Eingeweide ausgeschissen, ihre Glieder ohne Betäubung in Behelfs-Amputationen verloren. Und die Seelenschmerzen so furchtbar wie die des Körpers. Soldaten, kämpfend auf irgendwelchen Schlachtfeldern, wussten, ihr Zuhause in Finnland war nur noch Schutt und Asche, und ihre Kinder verhungert oder versklavt.
Als ich „Murhanenkeli“ schrieb, beklagte ich, dass die Geschichtsschreibung des Großen Nordischen Krieges die einfachen Leute ausließ. Gewöhnliche Soldaten haben keine Memoiren, Tagebücher oder Briefe hinterlassen, welche heute von Historikern analysiert werden könnten. Die Archive zeigen nur deren Namen, und oftmals nicht mal die richtigen, christlichen, sondern nur Rufnamen wie „Toilette“ oder „Horman“ („Schlampenmann“), von Armeeschreibern erdacht. Die Worte und Gedanken der unbekannten Soldaten des 18. Jh‘s sind für immer verloren, und doch waren diese Menschen so individuell wie wir heute. Jeder hatte seinen eigenen Charakter, war voller Emotionen. Ich würde gerne wissen, welche Kräfte des Geistes und der Seele dem Einzelnen jeweils geholfen haben, den Kampf um das Leben zu bestehen. Die einzigen Psychiater zur Behandlung von Kriegstraumata waren Priester, und die einzige psychotrope Substanz selbstgebrannter Fusel.
Musik spielte vor 300 Jahren einen großen Anteil im Leben eines Soldaten. Wir wissen von zahlreichen Hymnen und Märschen aus der Zeit des Großen Nordischen Krieges. Zweifellos spendeten diese den Soldaten, welche diese sangen, Trost, auch wenn sie mehrheitlich von Religion und Adeltum handelten. Denn auch hier: Die Stimmen der einfachen Soldaten und Bürger sind darin nicht zu vernehmen. Weder hat der Große Nordische Krieg Komponisten klassischer Musik inspiriert, noch haben finnische Poeten über diese dunkelste Seite unserer Militärgeschichte geschrieben.
Aber die vergessenen Menschen des Großen Nordischen Krieges sind es sicherlich wert, besungen zu werden. Schön, dass ihr Leben und Sterben jetzt in der Musik der 2020er Jahre eine Stimme erhält!“
Ins Deutsche von Emanuel Schwarz (