Kowloon Walled City war bis in die 90er Jahre ein Stadtteil Hongkongs, der im Volksmund Hak Ngam zi Sing, zu Deutsch „Stadt der Dunkelheit“, genannt wurde und als Inbegriff des urbanen Chaos galt. Das dicht besiedelte Ghetto wurde sich selbst überlassen, wuchs plan- und gesetzlos in die Höhe und verwandelte sich in ein düsteres Labyrinth krimineller Machenschaften. Und wie immer, wenn Ordnung und Sicherheit versagen, regierte auch dort das organisierte Verbrechen. Wobei der Ort auch cineastische Bedeutung hat, immerhin wurden 1988 weite Teile des Actionklassikers „Bloodsport“ mit Jean-Claude van Damme dort gedreht. Heute ist der Ort nur noch Geschichte, mittlerweile steht dort ein Stadtpark. Doch mit CITY OF DARKNESS erhält der Distrikt endlich sein lange überfälliges filmisches Denkmal auf der großen Leinwand.
Inszeniert wurde das Ganze von Soi Cheang, der bereits mit „Limbo“ eindrucksvoll zeigte, wie man die düsteren Seiten einer Großstadt filmisch in Szene setzt. Wir befinden uns in den späten 80ern, wo Chan Lok Kwan (Raymond Lam) auf der Flucht versucht, in dieser gnadenlosen Welt zu überleben. Sein Ziel: gefälschte Papiere. Doch die Mittel, um diese zu erlangen, sind alles andere als legal. Mit einer Tasche voll Kokain, die er dem Triaden-Boss Mr. Big (Sammo Hung) stiehlt, zieht er nicht nur den Zorn der Triaden auf sich, sondern tritt eine Kettenreaktion von Gewalt los, die ihn direkt in das Herz der ummauerten Stadt führt.
Bevor der Film hierzulande in die Kino kommt, hat er schon einige Vorschusslorbeeren erhalten: Für seine herausragende Regiearbeit wurde Soi Cheang Anfang Oktober auf dem renommierten Sitges Film Festival mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet. Zudem geht CITY OF DARKNESS für Hongkong ins Rennen um den Oscar für den Besten internationalen Film.
Der Ort selbst ist der eigentliche Star des Films. Und im Grunde lohnt der Kauf des Kinotickets allein schon wegen des wunderbaren Sets. Jeder Straßenzug, jedes Gebäude und jede Gasse wurden mit so viel Sorgfalt gestaltet, dass man die beklemmende Enge der Stadt förmlich spüren kann. Die Walled City wird lebendig – ein organisches, atemloses Labyrinth aus Beton, das seine Bewohner verschlingt und kaum Platz zum Atmen lässt. Dies spiegelt sich auch in der Farbgebung wider, die von gedeckten Grün- und Brauntönen dominiert wird. Doch die düstere Atmosphäre, die bedrohliche Kulisse und die großartige Beleuchtung sind mehr als nur eine Hommage an das Hongkong-Actionkino der 80er, sie sind eine Rückkehr. Man fühlt sich direkt in Klassiker wie John Woos „City Wolf“ oder den Johnny-Mak-Meilenstein „Hongkong Vice“ zurückversetzt, in denen das Gesetz der Straße und die Macht der Gangs über allem standen.
Tatsächlich wurden hier keine Kosten und Mühen gescheut. Statt die Darsteller, wie heute oft üblich, vor Greenscreens zu platzieren, wurde hier ein lebensgroßer Nachbau der Kowloon Walled City errichtet. Was den Film besonders auszeichnet, ist Soi Cheangs Fähigkeit, das Ganze sowohl realistisch als auch mythologisch darzustellen. Es ist eine Stadt im Umbruch, ein Ort, der kurz vor dem Zusammenbruch steht und dennoch voller Leben pulsiert. Seine Regie lässt uns in diese Zeit eintauchen, in der die politischen und sozialen Strukturen der Stadt zu zerfallen drohten, und er verwebt dies gekonnt mit der Geschichte seiner Hauptfigur Chan Lok Kwan.
Doch CITY OF DARKNESS ist nicht nur Kulisse, er ist auch pure, ungebändigte Action. Die Kämpfe sind roh, explosiv und voller Energie – aufwendig choreografiert und kompromisslos hart. Cheang weiß einfach, wie man Material Arts packend inszeniert. Jeder Schlag sitzt, und jede Bewegung kann Leben oder Tod bedeuten.
Der Film bleibt zwar konsequent den Regeln des Genres treu und bietet eine fesselnde, actiongeladene Handlung mit den typischen Elementen – Schläge und Tritte, die durch Wände schleudern, übernatürliche Kräfte und Charaktere, die scheinbar schwerelos durch die Luft schweben –, dennoch gelingt es ihm, auch subtile Nuancen von Loyalität und Brüderlichkeit einzuflechten. Diese emotionalen Momente durchbrechen immer wieder den Adrenalinrausch der Actionszenen und verleihen CITY OF DARKNESS eine unerwartete Tiefe. Die Dynamik zwischen den Figuren ist gut durchdacht und spiegelt die Spannungen wider, die in einer Welt herrschen, in der Überleben oft mehr bedeutet, als nur den nächsten Tag zu erleben. Es geht um Zugehörigkeit, Vertrauen und Verrat – Themen, die so alt sind wie die Menschheitsgeschichte selbst, die aber in der brutalen Welt der ummauerten Stadt Kowloon eine neue Dimension erhalten.
Dass das so gut funktioniert, liegt natürlich auch an der großartigen Besetzung. Die Hauptrolle ist mit dem hierzulande (bislang) wenig bekannten Raymond Lam besetzt, der sich hier allerdings definitiv als neue Hoffnung des Action-Kinos empfiehlt. Lam verkörpert den verzweifelten Chan Lok Kwan mit einer Intensität, die unter die Haut geht. Sein Spiel bringt die Zerrissenheit der Figur – zwischen Überleben und moralischem Verfall – hervorragend zur Geltung. Gleichzeitig ist er natürlich auch ein erstklassiger Actionstar, den man hoffentlich noch öfter auf der großen Leinwand erleben darf. An seiner Seite agieren einige der größten Namen des Hongkong-Kinos. Louis Koo, den Fans aus Kultfilmen wie „Election“ und der Neuauflage von „A Chinese Ghost Story“ kennen, bringt seine unverkennbare Präsenz in die Rolle des Gang-Bosses Tornado. Seinen Gegenpart als fieser Triaden-Boss Mr. Big übernahm kein Geringerer als Sammo Hung, vielleicht neben Jackie Chan und Bruce Lee der prägendste Schauspieler und Kampfkünstler der asiatischen Filmindustrie. Hung, der bereits 1973 an der Seite von Bruce Lee in „Der Mann mit der Todeskralle“ glänzte, verleiht seinem Mr. Big eine bedrohliche Gravitas, wie nur er es kann.
Und das ist längst nicht alles. CITY OF DARKNESS versammelt nahezu das gesamte Who‘s who des Actionkinos des asiatischen Landes. So sind hier unter anderem auch Richie Jen („Bodies At Rest“) und Philip Ng („Enter The Fat Dragon“) zu sehen, die darstellerisch und vor allem, was ihre Fähigkeiten als Material-Art-Darsteller angeht, zeigen, warum sie aktuell zu den Besten gehören, die das Genre zu bieten hat.
CITY OF DARKNESS ist mehr als nur ein Actionfilm – er ist auch ein Porträt einer Ära, die von kriminellen Machenschaften, kulturellen Umwälzungen und dem Überlebenswillen der einfachen Menschen geprägt war. Gleichzeitig ist der Film aber auch eine große Verbeugung vor dem Hongkong-Kino, die Fans Freudentränen ins Gesicht zaubern wird. Und nicht nur die werden begeistert sein – auch alle anderen Action-Fans, die die rasante Inszenierung von Filmen wie z.B. „John Wick“ zu schätzen wissen, sollten sich hier auf jeden Fall eine Eintrittskarte sichern.
Florian Tritsch
Infokasten
CITY OF DARKNESS ist nicht das Ende der Geschichte
Nach dem überwältigenden Erfolg in Hongkong sind bereits zwei Fortsetzungen in Planung. Die eine wird die Ereignisse des aktuellen Films weiterführen und die Geschichte der Charaktere vertiefen, während die andere als Prequel konzipiert ist. Sie wird sich auf die düstere Vergangenheit der Stadt konzentrieren.
Titel: CITY OF DARKNESS
Land/Jahr: Hongkong 2024
Label: PLAION PICTURES
FSK & Laufzeit: n.B., ca. 125 Min.
Kinostart: 28. November